Leben als Siegfried

Ich heiße Siegfried und bin der Älteste von vier Geschwistern. Meine vier Brüder heißen Gunther, Gernot, Reinald und Rüdiger. Meine Schwester Armgard ist im Alter von 1 Jahr gestorben. Für unsere Mutter war das besonders schwer, weil sie sich immer eine Tochter gewünscht hatte und sehr an Armgard hing. „Ihr Ritter von der Tafelrunde“, sagte sie manchmal zu uns Männern, „wachst mir langsam über den Kopf.“ Wir wohnen in einem ländlichen Vorort von Worms, wo meine Eltern, unweit des Rheins, ein hübsches, kleines Anwesen besitzen: Pferdezucht, Spring- und Turnierreiten, Ponys für Kutschfahrten. Mein Vater Friedrich ist Direktor einer Bank, meine Mutter betreut als gelernte Pferdewirtin die Tierzucht. Früher nahm sie sich abends vor dem Einschlafen manchmal Zeit für mich, setzte sich an den Rand meines Bettes, hielt meine Hand und erzählte mir eine Geschichte, in der ich, ihr Ältester, der strahlende Held war.

Burgen kamen darin vor, edle Ritter und ihre Knappen, Fehden und Reisige, und immer wieder: Siegfried. Wie er durch den dunklen Wald streift und nach der Höhle des Drachen sucht, weit oben, in den einsamen, schneebedeckten Bergregionen, wohin sich noch nie eine Menschenseele gewagt hat, wie er oder ich, gleich viel, den unwirtlichen Bau endlich gefunden habe, mich dort hinter uralten Bäumen bis zum Morgengrauen versteckt halte, bis das Untier endlich erwacht, seinen von eitrigen Geschwüren bedeckten Kopf aus der Höhle streckt, mich erblickt, wie ich trotzig und mutig auf den Kampfplatz trete, das schwere, tödliche Schwert in der Rechten, den Schild in der Linken, wie ein Sumo-Ringer lächelnd und tanzend. Schwefel und Feuer speit das Ungeheuer nach mir aus, begleitet von einem Schrei des Triumphes, der die Tiere des Waldes aufscheucht. Mutig, ausdauernd, bis zur völligen Erschöpfung kämpfe ich, kämpft er, und am Ende, wenn alles schon verloren scheint, erhebe ich in einem Akt kühner Selbstüberwindung kraftvoll das Zauberschwert, um dem Bösen Krakenarme und Kopf abzuschlagen. „Doch dann“, schließt Mutter endlich, „quillt das Blut in einem breiten Strom aus den Wunden des Drachens hervor; du reißt dir die Kleider vom Leib und badest genussvoll in dem warmen Lebenssaft, der dich unsterblich und unverwundbar macht.– Schlaf süß, mein kleiner, mutiger Held!“

Ich werde nicht einschlafen können, denn ich bin kein furchtloser Muskelmann mit Schwert und Schild, kein Siegfried, der die Welt durchstreift, um die Arme und Köpfe von Drachen abzutrennen und sich in kochendes Blut zu stürzen!

„Warte noch einen Augenblick, Mama! Du hast das doch alles nur erfunden, nicht wahr, den Siegfried und den Drachen?“ Mutter hebt resigniert ihre Schultern, lässt meine Hand los. Ich schlafe nicht ein.

„Du bist eine Mimose“, sagen meine Eltern bald zu mir. Ich bin nämlich äußerst verletzlich, nicht nur am Nacken! Ich falle immer wieder hin, komme mit zerrissenen Hosen, aufgerissenen Knien und blutender Nase nach Hause. Oft bin ich krank, trage Tag und Nacht eine graue Filzkappe, von der ich glaube, dass sie mich unsichtbar macht. Ich verstecke mich stundenlang im Gartenhaus, unter der Kellertreppe, auf dem Dachboden, wo mich niemand findet. Dort horte ich alles, was mir lieb und teuer ist: eine uralte Münze, eine halbvolle Zigarettenschachtel, eine Haarschleife, die Gaby, das Mädchen aus der Nachbarschaft, verloren hat, ein Comicheft, einen verrosteten Schlüssel und Kaugummis.

Wenn ich doch einmal kämpfen muss, dann nur mit dem Holzschwert, mit dem ich abends unterm Bett stochere, um die Gespenster zu vertreiben. Manchmal gehe ich damit auf meinen Bruder los, den ich beneide, weil er mutiger ist als ich und mehr Talent zum Helden hat, der den Leuten frech das Geld aus der Tasche zieht und immer etwas von der Straße mit nach Hause schleppt, das sich leicht versilbern lässt.

Später, erwachsen geworden, entdecke ich, dass man kein Held zu sein braucht. Es gibt genügend Frauen, die einen auch so lieben. Ja, meine Verwundbarkeit, mein antiheldisches Auftreten scheint manche Frauen geradezu anzuziehen. Die Frauen, denen ich während meines Studiums begegne, sind klug, wollen Karriere machen und keine kleinen Helden in die Welt setzen. Erregt diskutieren wir nächtelang: über Hitler und Stalin, Adorno und Freud, über indische Ragas und indianische Weissagungen. Wenn unsere diskursive Erregung abgeflaut ist, dann lieben wir uns auf meinem Flokatiteppich - bei Stones-Musik. Bei Musikerinnen greife ich gerne zur Teufelstrillersonate von Paganini. Eine wie Kriemhild, die heimlich hinterm Vorhang steht und darauf wartet, dass ich beim Ritterturnier mit gezückter Lanze im gestreckten Galopp einen Fingerreif aufspieße und mir dabei fast den Hals breche, hätte ich vermutlich niemals begehrenswert gefunden. Sie mich wahrscheinlich auch nicht.

Die Kriemhild, die ich mir dann später angelacht habe, heißt Ingeborg und bäckt einen phantastischen Apfelkuchen. Sie ist blond, klein, rundlich, besitzt ein stets fröhliches, ausgeglichenes Wesen und kommt aus Buntekuh, einem Vorort von Lübeck. Ich liebe sie nicht wirklich, aber wir kommen auch so gut miteinander aus. Ich habe sie geheiratet, weil sie mir, bildlich gesprochen, in den Schoß gefallen ist und ich nicht um sie kämpfen musste. Ich halte es für abwegig, um Frauen wie um fremde Territorien zu kämpfen. Man hat ja gesehen, wohin das führt. Ich setze mich grundsätzlich nur solchen Wagnissen aus, die ich überblicken kann. Ich tauge nicht zum Helden, allenfalls zu einer ganz milden Form des Widerstands, bei der ein Diktator aus sicherer Distanz mit Hilfe einer Fernsteuerung in die Luft gejagt wird.

Ich zeichne ein Portrait von mir: guter Kumpel, jemand, mit dem man Pferde stehlen kann, Wanderfreund, verlässlich, solide, erdverbunden, Biertrinker. Seit einiger Zeit helfe ich Frauen, die in ihrer Ehe nicht mehr klar kommen, für mich weniger ein Geschäft als eine Herzensangelegenheit. Äußerste Diskretion ist selbstverständlich; durch die „Tarnfarbe“ kommt bei keiner Frau das Gefühl auf, therapiert zu werden. Ich habe unbestritten ein Talent zum Frauenflüsterer, womit ich schon manche Ehe, die zu scheitern drohte, wieder geflickt habe.

Irgendwie steckt mir das Zusammenfügen und -flicken im Blut. Ich flicke gerne, es ist meine Art, mich geistig und körperlich zu entspannen. Abends nehme ich gerne Nadel und Faden, nähe abgerissene Knöpfe an, ziehe einen neuen Gummi in eine Schlafanzugshose ein oder repariere mit Hilfe der alten Singer-Nähmaschine ein zerschlissenes Betttuch. Meine Freunde sagen, ich hätte mit meinen Talenten durchaus Seelsorger werden können. Gott sei Dank, kann ich nur sagen, habe ich mich aber anders entschieden. Ich verabscheue das Heroische, und Pfarrer sind für mich die modernen Helden par excellence. Sie kämpfen einen verbissenen Kampf gegen den um sich greifenden Atheismus.

Meine hingebungsvolle Tätigkeit als Mediator und Frauenversteher hingegen befriedigt mich in jeder Beziehung. Übrigens auch finanziell. Einmal hat mir eine Frau, der ich stundenlang mein Ohr geliehen hatte, einen indianischen Ledergürtel zusammen mit einem Silberring geschenkt. Zu Hause habe ich beides versteckt, meine Frau weiß nicht viel über meinen Beruf, und das ist auch besser so. Ich sage meinen Klientinnen immer: „Tarnung ist die beste Ehemedizin“. Wenn Paare keine Geheimnisse mehr vor einander haben, dann können sie gleich den Totengräber für ihre Ehe bestellen.

Ich bin kein Held. Helden sind nur etwas für Gute-Nacht-Geschichten. Aber in letzter Zeit träume ich manchmal davon, einem wie Siegfried zu begegnen.