New York, Lexington Avenue
Eine Straße in New York, Lexington Avenue wahrscheinlich, schwer auszumachen auf dem alten Foto mit den verblassten Farben. Es ist ein Samstag oder auch Sonntag im Juli 1977, blauer Himmel, Sonne, mittags, kurze Schatten, Hochhäuser, schmucklose, gesichtslose Kästen, Fensterquadrate, Rechtecke, Quadrate, Rechtecke, auf einem Dach ein Antennenstummel. Ein paar Autos am linken Straßenrand geparkt, breit ausladende Straßenkreuzer, die andere Seite vermutlich „Tow-away-Zone“ an ungeraden Tagen. Zwei Männer in dunklen Anzügen, Blick in die weite Ferne, rätselhaft, als ob sie auf etwas warteten, das nie eintreten wird; stehen da, von der Straße Besitz ergreifend; in der Nähe weitere Passanten. Die gelben Ampeln über den Kreuzungen - ausgeschaltet. Die Straßenflucht mit den Hochhäusern zieht sich am Horizont in einem winzigen Punkt zusammen, Parallelen schneiden sich im Unendlichen, Lehrbuch für perspektives Zeichnen, 1. Kapitel. Wir sind auf der Suche nach unserem Schnittpunkt, an diesem letzten Tag in NY.
Ich stehe mitten auf der Straße, fotografiere die breite Lexington Avenue, es ist ein Tag, der so einzigartig ist, dass er nur alle 12.000 Jahre wiederkommen wird – sagt die Wahrscheinlichkeitsrechnung und schließende Statistik. Nichts, absolut nichts ist heute hier los. Kein Verkehr. Kein Auto, kein Taxi, kein Motorrad, nur ein, zwei Busse in weiter Distanz. Die Stadt schweigt, ist ratlos. Sie ist schockgefrostet, eingeschlafen, Winter im Hochsommer. Der schlimmste Kollaps ihrer Geschichte, the worst case, der war gestern Nacht, sie muss ihn erst noch begreifen. (Der 9. September wird viele Jahre später den schließenden Statistikern endgültig den Boden unter den Füßen wegziehen.) Wir waren mitten drin.
Für mich geht das Leben in New York weiter, du bist hier. Noch. Bis heute Abend. Ich, du und New York, wir gehören zusammen. Ich verdränge, dass du heute wegfliegst. Ich weiß, immer, wenn ich den Blues höre, werde ich die Stadt am Hudson-River vor mir sehen, zusammen mit dir, wie du dich langsam im Takt bewegst, die Hüften schwingst, weiche, große, lässige Bewegungen, selbstverliebt, selbstvergessen und sexy. Du wirst abreisen, ich werde hier bleiben.
Jetzt, auf dem Foto schon nicht mehr zu sehen, stehst du am Straßenrand. Manchmal kannst du wie ein Kind sein, das ungeduldig nach Aufmerksamkeit sucht. Du beobachtest mich eine Weile aus den Augenwinkeln, wie ich ein Foto nach dem anderen aufnehme, mitten auf der sonst so befahrenen Avenue.
„Warte doch noch ein bisschen. So etwas kommt nur einmal im Leben vor“, rufe ich zu dir hinüber. Du rauchst, schüttelst den Kopf und schaust jetzt demonstrativ in die Ferne, wo die beiden Parallelen Zwiesprache im Unendlichen halten.
Du ziehst dich wie ein Collegegirl an und nicht wie eine Frau, die demnächst in einer Klinik arbeiten wird. Facharztausbildung in Psychiatrie.
„Ich finde dich überaus spießig, was deine Kleidung betrifft“, hast du mir einmal gesagt, „ich halte es mit der Jugend. Älter und hässlicher werden wir sowieso. “
Ich möchte, dass du zu mir kommst, dich vor der leergefegten Straßenkulisse fotografieren lässt, so, wie du heute angezogen bist. Doch du spielst nicht mit, versteckst dich wie ein Kind hinter den geparkten Autos.
„Du weißt doch, dass ich auf Fotos meistens ganz grauenvoll aussehe“, erklärst du mir später. Du willst nur, dass ich dir widerspreche. Ich nehme dich in den Arm, will dich küssen. Doch du wehrst mich ab.
„Nicht hier, in der Öffentlichkeit.“
„Aber wo sonst? Die Stadt liegt im Tiefschlaf, niemand ist unterwegs. Wir könnten uns heute mitten auf der Straße lieben, und keiner würde davon Notiz nehmen.“
Heute, am späten Nachmittag, wirst du nach Deutschland zurückkehren. Mein Vertrag mit der New Yorker Universität wurde um ein weiteres Jahr verlängert.
„Klar, dass ich dich besuchen werde, wenn es irgendwie drin ist. Aber ich weiß nicht, wie es im ersten Jahr mit Urlaub aussieht“, fügtest du hinzu.
Ich will jetzt nicht an die Zukunft denken. Es sind die letzten Stunden hier in New York.
Gestern war alles noch anders. Wir waren berauscht von dem vielen Geld, das wir auf einmal in Händen hielten. Der Verkauf des Autos war einfacher, als du befürchtet hattest. 6 Wochen waren wir damit auf dem Highway gewesen, von Ost nach West und wieder zurück, durch viele Staaten, Highway 66, die Route kennt jeder, mit dem guten, alten Chevy, 8 Zylinder, Verbrauch 17 l auf 100 Kilometer, wenn du fuhrst noch etwas mehr, vorne Platz für vier Personen. Wir schliefen meistens im Auto, ich vorne, du hinten, manchmal lagen wir auch beide hinten. Der Chevy war einfach so eine geile Wuchtbrumme. Er röhrte beim Kickdown wie ein brünstiger Hirsch, stockte für einen Moment, als ob er tief Luft holen wollte, und jagte dann wie von der Tarantel gestochen los. Leider nur bis 55 Meilen in der Stunde, speed limit. Einmal wurden wir gejagt, von der State Police in Oklahoma. Harte Burschen, bis an die Zähne bewaffnet, rednecks. Die waren aber nett, als sie hörten, dass wir Deutsche sind. Nach der zweimaligen Durchquerung des Kontinents ging unserem Autoveteranen die Puste aus. Wir kamen in NY an, da fuhr er nur noch auf 6 Töpfen, blieb aber immer noch ein verdammt strammer Bursche, wenn die Ampel auf Grün wechselte. Und Phil, der Linguistikstudent aus Cornell, der ihn kaufte, hatte zum Glück keine Ahnung von Autos.
Klar, dass wir unseren Verkaufserfolg und den letzten Abend feiern wollten. Du hattest eine pickfeine Bar um die Ecke von unserem Wohnheim ausgesucht. Doch dann wolltest du plötzlich ins Kino im Lincoln Center, 65. Straße, ein Film, ausgerechnet von einem deutschen Regisseur, Werner Herzog. Du hattest darüber im New Yorker gelesen. Eine Geschichte von ein paar verrückten Deutschen, die nach Amerika auswandern, dort ihr Glück suchen und am Ende Schiffbruch erleiden.
„Passt doch prima zu uns“, meintest du und lachtest mir dabei ins Gesicht.
Ich kann mich an den Film an diesem letzten Abend in NY nicht mehr erinnern, aber ein besoffenes Huhn spielte dabei eine Rolle, das tanzte. Plötzlich ging jedenfalls der Projektor in dem riesigen Kino aus. Filmriss. Es blieb lange Zeit dunkel, vielleicht 5 oder 6 Minuten, bis die Leute unruhig wurden. Du griffst nach meiner Hand. Ich zog dich an mich und wollte dich zu küssen. Doch du drehtest den Kopf zur Seite.
Schließlich kam jemand mit einer Taschenlampe in den Saal, stellte sich vorne hin und leuchtete in unsere Richtung. Überfall, dachte ich instinktiv, scheiße, ich habe das ganze Geld bei mir. Diese Idioten!
Doch der Mann rief: „Sorry, you have to leave now, we can’t go on with the film. Blackout.“
Du fragtest mich leise, was das zu bedeuten habe.
„Komm, wir gehen raus, keine Ahnung, was los ist. Jedenfalls kein Gangster.“
Draußen lag die riesige Stadt vor uns, im Dunkeln. Nur die langen Straßenbänder waren durch die Scheinwerfer der Autos erleuchtet. Die Hochhäuser, die Straßenbeleuchtung, die riesigen, hell glänzenden bunten Werbeflächen - alles erloschen. Dieses grandiose Lichtermeer, das keine Tages- und Nachtzeit kennt, -aus, stumm, blind, tot wie ein an Land geworfener Walfisch, eine riesige, dunkle Körpermasse, von Scheinwerfern durchbohrt, die wie vergebliche Hilferufe in die Nacht hineinragten.
New York war durch die Hitzewelle, die auf Hochtouren laufenden Klimaanlagen, den Ausfall eines Kraftwerkes und die anschließende Kettenreaktion in ein vollkommenes Chaos gestürzt, in eine archaische, vorzivilisatorische Zeit, und wir waren mitten drin, wir, zwei Liebende, die ihren Schnittpunkt am Horizont suchten, der jetzt dunkel und unerreichbar war.
„Wir müssen nach Hause, und das ist, verdammt nochmal, am anderen Ende von Manhattan, keine Ahnung, wie wir da hinkommen“, sagte ich. Das Wohnheim der Columbia-University lag irgendwo an der 120. Straße.
Ich war wütend wegen des Films und wegen des letzten Abends. Du wolltest kein weiteres Jahr hier bleiben. Dabei hätten sie dir deine Stelle frei gehalten.
Die U-Bahnen fuhren nicht, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. Die Busse waren überfüllt, wir warteten lange Zeit vergeblich an einer Bushaltestelle. Irgendwann fing ich an, dir Vorhaltungen zu machen. Ich hatte 1200 Dollar in der Hosentasche, ein Taxi war nicht zu bekommen, du fingst an, leise zu weinen. Unser letzter Abend, unsere letzte Nacht.
Schließlich machten wir uns zu Fuß auf den Weg, von der 65. zur 120. Straße, ich weiß nicht, wie viel Kilometer das sind, 5, 10 oder 15. Mit der U-Bahn sind es jedenfalls mehr als 10 oder 20 Stationen. Man fährt durch Slums und aufgelassene Industriebrachen. Kein schöner Spaziergang bei Nacht.
Der Weg ist beschwerlich, die Betonplatten des Bürgersteigs sind aufgerissen. Kein Mensch repariert hier etwas. Ich falle hin, reiße mir die Hand an einer Scherbe auf, es blutet stark. In einer nahe gelegenen Kneipe mit lauter finsteren Typen, die dort bei Kerzenlicht ausharren und uns von der Seite anstarren, gibt man uns eine weiße Papierserviette, um die Wunde notdürftig zu verschließen. Du wendest dich ab, kannst kein Blut sehen. Wieso eigentlich? Du hast Medizin studiert. Hast Kurse in Anatomie und Notfallmedizin belegt. Doch bei Psychiatern muss man wohl Nachsicht üben. Alles ist da anders.
Draußen vor der Tür stellt sich uns ein breitschultriger Schwarzer in den Weg.
„Folks, you’ve to take the bus. This is not a place for people like you. Strange things happen here.“
„Jetzt haben wir die Scheiße!“, sage ich zu dir.
Dir ist inzwischen alles egal. Du willst nur weg von hier, weg von dieser verdammten Straße, weg von New York, weg von Amerika. Irgendwann, mitten in der Nacht, auf dem Weg zur 120., nimmt uns ein überfüllter Bus auf. Er fährt halb Manhattan ab, im Morgengrauen erreichen wir endlich das Wohnheim.
Der Aufzug geht nicht. Wir schleppen uns müde in den 8. Stock, schlafen gleich ein, Seite an Seite. Nach wenigen Stunden werden wir von einem schrecklichen Lärm geweckt. Der Strom ist wieder da! Der Aufzug läuft, aber seine Programmierung hat Schaden gelitten. Mit einem lauten Krachen kommt er oben bei uns an, stößt an irgendetwas an und kehrt dann wieder um, um noch kurzer Höllenfahrt wieder oben anzustoßen. Es macht einen wahnsinnigen Lärm. Das geht so, ohne Pause, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Unser Zimmer liegt direkt neben der Aufzugstür.
Der Tag wird so heiß wie der gestrige. Du ziehst dein rotes T-Shirt mit dem kurzen Rock aus dem gepackten Koffer. Bis zu deinem Abflug sind es noch ein paar Stunden. Du willst diesen Tag noch auskosten, nach Ellis Island übersetzen. Verrückt! Heute wird uns keine Fähre übersetzen. Wir machen uns auf den Weg in die Stadt, Taxis und Busse fahren. Irgendwo in Midtown, an der Lexington Avenue, steigen wir aus. Ich will unbedingt die leeren Straßen fotografieren. Du bleibst am Straßenrand stehen, mit deinen Gedanken woanders, schaust in die weite Ferne, dorthin, wo die beiden Straßenfluchten sich am Horizont treffen und stumme Zwiesprache halten.