Familiensonntag

Am Sonntag schlafe ich nicht länger als an Wochentagen. Nach dem Aufwachen bleibe ich noch eine Weile im Bett liegen, starre an die Decke und denke über ein Insekt nach, das in einem Spinnennetz zappelt. Warum reißt das Netz nicht, wenn sich ein so großes Tier dort verfangen hat und verbissen um sein Leben kämpft? Warum lauert die Spinne mit so feinfühliger Ruhe und Geduld, bis sich das Insekt endlich zu Tode gezappelt hat? Ich  werde in dem Biologiebuch meiner Schwester Renate nachsehen.

Vor ein paar Tagen habe ich auf die Zimmerwand gegenüber meinem Bett eine Tapete mit gedruckten Mauersteinen geklebt. In der Mitte ließ ich eine Öffnung frei, in der ich ein Gitter aus Stacheldraht montierte. Ich habe die Idee, aus meinem Zimmer eine Eremitenklause zu machen, bin mir aber noch nicht sicher, ob das der richtige Weg für mich wäre. Wenn ich die Augen zukneife, meine ich, hinter dem Gitter eine weite, einsame Flusslandschaft zu erkennen: uralte Bäume, hohe Zypressen und einen verlassener Palast am Meer, eine Gegend im Süden, vielleicht Italien oder Spanien, für mich jedenfalls unerreichbar.

Nebenan wird das Sonntagsfrühstück zubereitet. Ich höre den Wasserkessel pfeifen; Filterkaffee wird aufgebrüht, auf dem Herd werden Eier hart gekocht, im Backofen Brötchen aufgebacken. Ich warte, bis Vater die Türe aufreißt und mich zum Aufstehen ermahnt.  

Am Frühstückstisch herrscht am Sonntag eine strenge, unabänderliche Sitzordnung, seit Jahr und Tag. Keiner käme je auf die Idee, sie ändern zu wollen. Vater hockt an der Stirnwand, wo er alles überblicken und jeden, der den Raum verlässt, auffordern kann, die Tür hinter sich zu schließen und etwas in die Küche mitzunehmen. Links neben Vater haben Mutter und Martin, mein jüngerer Bruder, Platz genommen; meine Schwester Renate sitzt am anderen Ende des Tisches Vater gegenüber.

Ich frage mich, warum das immer so sein muss, Sonntag für Sonntag – dieselbe Sitzordnung, das selbe Tischgebet, die ständigen Ermahnungen, wenn die Wohnzimmertür offen geblieben ist und wir beim Hinausgehen in die Küche einmal nichts mitgenommen haben? Einmal hatte ich den Mut, mich auf Vaters Platz an der Stirnseite des großen, achtfach ausziehbaren Eichentisches zu setzen, das war, als Vater beruflich unterwegs war. Mutter hatte mich dazu ermuntert. Dort, an der Stirnseite, spüre ich zum ersten Mal eine ungeheure Machtfülle, kehre aber, als Vater wieder heimkehrt, reumütig auf meinen alten Platz in der Rundung der Eckbank zwischen Mutter und Renate zurück. Es ist sinnlos, gegen die angestammt Ordnung zu rebellieren; ich gehe resigniert in meine Eremitenklause und schaue in die weite Flusslandschaft hinter der Tapetenmauer.

Vater ist am Sonntag Morgen oft gut gelaunt, raucht nach der Mahlzeit eine dicke Zigarre, die er mit einem kleinen, silbernen Zigarrenabschneider vorher kupiert hat. Der Rauch, der sich im Wohnzimmer ausbreitet und bis hinüber in das nebenan gelegene Herrenzimmer zieht, wo Vater sein Büro hat, signalisiert, dass er im Frieden und in Eintracht mit sich selber ist. Seine sonntägliche Milde kann aber jederzeit umschlagen. Dann bekommt er einen harten, ja, gewalttätigen Ausdruck im Gesicht, vor dem ich mich fürchte. Am besten ist es dann, sich hinter Mutters breitem Rücken zu verstecken.

Nur der Bruder, dieser standhafte Zinnsoldat, scheint überhaupt keine Angst vor ihm zu haben. Mutig sitzt er eine Armlänge entfernt von Vater, wo er den zornigen Aufwallungen schutzlos ausgeliefert ist, die an Sonntagen besonders heftig ausfallen können. Vater ist an diesem Tag ausgeruht und nimmt sich für alles Zeit. Martin macht sich einen Spaß daraus, Vater zu provozieren. Zum Beispiel bringt er gerne das Gespräch auf die Oder-Neiße-Linie. Vater und Mutter sind beide Flüchtlinge, aber hängen an ihrer alten schlesischen Heimat, als hätte es nie den Krieg gegeben. Nach einem langen und aggressiven Hin und Her der Argumente, das sich immer mehr im Kreis dreht, zieht Vater schließlich seinen letzten Triumph aus der Tasche: „Ihr seid Schlesier und werdet es immer bleiben“, brüllt er uns an. Wir haben ihn wieder einmal gekränkt, er ist offenbar tief verletzt, er und Mutter, die vor sich hin weinend am Sonntagsfrühstückstisch sitzt und über Herzschmerzen klagt.

Es ist immer wieder der gleiche Krieg mit der gleichen Schlachtordnung, das gleiche Spiel, Sonntag für Sonntag. Oft genügt es schon, vorsichtig zu erwähnen, dass wir Schlesien doch gar nicht kennten, viele Jahre nach dem Krieg geboren wären und deswegen auch gar nichts mit der „alten Heimat“ im Sinn hätten, um Vaters Jähzorn zu provozieren. Er erträgt es einfach nicht, dass wir anderer Meinung sind als er, holt plötzlich unbeherrscht aus und schlägt meinem Bruder ein paar Mal ins Gesicht, der mit den Armen ruhig und gelassen seinen Kopf gegen die Schläge schützt. Ich drücke mich in die Rundung der Eckbank, meine Schwester steht auf und erklärt, sie müsse noch Querflöte üben.

Manchmal, wenn ich nicht in Deckung gehen kann, weil mein mütterlicher Schutzschild schon vor dem Höhepunkt des Gemetzels den Raum verlassen hat, schlägt er auch auf mich ein, ja, seit einiger Zeit scheint er es vor allem auf mich abgesehen zu haben, als Ersatz für meinen Bruder. Martin muss sich einen gewissen Respekt bei ihm verschafft haben. Ich erinnere mich, dass er einmal, als Vater ihn verprügeln wollte, zum Fenster lief, beide Flügel weit aufriss und aus Leibeskräften „Hilfe, Polizei!“ schrie, so dass überall in der Nachbarschaft Fenster und Türen aufgestoßen wurden und Vater blamiert von seinem schändlichen Tun ablassen musste. Ich hätte mich das allerdings nicht getraut, aus Angst, anschließend in den dunklen Kohlenkeller eingesperrt zu werden.

Nachdem unsere Sonntagsschlacht beendet ist, sich alle wieder beruhigt haben und zu ihren Plätzen zurückgekehrt sind, wird unser Frühstück fortgesetzt. Es zieht sich oft lang hin, Mutter spricht immer von einer „Schweinevesper“. Ich weiß nicht, was sie damit meint, denn wir benehmen uns doch beim Essen immer ordentlich und gesittet, und an Sonntagen werden stets saubere, weiße Stoffservietten und ein weißes Tischtuch gedeckt. Vielleicht spielt sie mit dem Wort auch nur auf die großen Mengen an, die wir zu uns nehmen. An dem einen Tag der Woche wird so gut wie alles aufgetischt, was Kaufmann Berger am Samstag angeliefert hat: Schinken und Cervelatwurst, Fleischsalat, gekochte Eier, Käse, geriebenen Schmalz, Brot und Brötchen und vielerlei Sorten von Marmelade, die Mutter im vergangenen Herbst selbst eingekocht hat. Zum Nachtisch gibt es eingelegtes Quittenkompott.

Meistens warte ich nicht, bis die Schweinevesper zu Ende ist, sondern mache mich vorzeitig in die Kirche auf. Beim Hinausgehen lasse ich noch eine kritische Bemerkung fallen, warum die Eltern denn nie in den Gottesdienst gingen. Vater wird wütend und erklärt mir, dass der Pfarrer für die Oder-Neisse-Linie sei. Als ich ihn frage, was daran so schlimm wäre, droht der sonntägliche Glaubenskrieg erneut aufzuflammen. Gott sei Dank kratzt in diesem Moment Oskar, unser Kater, an der Terrassentür. Vater öffnet ihm, und Oskar springt sofort auf seinen Stuhl, wo ihn Vater gewähren lässt. Er streichelt ihn lang und ausgiebig.

In die Kirche gehe ich vor allem deswegen, weil ich dort Christa treffe. Sie sitzt meist zwei Reihen vor mir, da kann ich sie während der Predigt ganz in Ruhe von hinten betrachten und meinen Phantasien viel Platz einzuräumen. Sie scheint das aber zu spüren, und so dreht sich manchmal ärgerlich nach mir um. Sollten sich unsere Blicke begegnen, bewegt sie missbilligend ihren Kopf, als wolle sie mich wie ein lästiges, großes Insekt von sich abschütteln. Nach der Kirche verschwindet sie rasch in der Sakristei. Ich warte draußen vergeblich.

Zu Hause lege ich mich aufs Bett und starre lange Zeit auf die gedruckten Mauersteine an der Wand, und wenn ich die Augen zukneife, sehe ich die weite südliche Flusslandschaft.